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Der verbale Stein aus dem Internet

Im Gespräch mit Diplom-Psychologe Dr. Torsten Porsch

Cyber-Mobbing ist in der heutigen Gesellschaft zu einem präsenten Thema geworden. Prävention ist vor allem bei Kindern und Jugendlichen eine erforderliche Maßnahme, um sie für dieses Thema zu sensibilisieren.

Im Oktober dieses Jahres ist der Film „Homevideo“ von Kilian Riedhof mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet worden. Der Film erzählt die Geschichte von Jakob, einem 15-jährigen Schüler, der sich nach der Trennung seiner Eltern immer mehr zurückzieht. Auch seine Schulleistungen fallen deutlich ab. Lediglich durch seine Mitschülerin Hannah und sein Videotagebuch hat er noch Teil am Leben. Als ein peinliches Video von ihm in die Hände seiner Mitschüler gerät und sich wie ein Lauffeuer im Internet verbreitet, ist auf einmal nichts mehr wie es war. Seine Mitschüler beginnen Jakob auszulachen und ihn zu mobben. Über das Internet erhält er Hassnachrichten, die schwer an seinem Lebenswillen zehren. „Homevideo“ greift die Schattenseiten der schier unaufhaltbaren Medialisierung auf und zeigt die drastischen Konsequenzen des hemmungslosen Umgangs mit den Informations- und Kommunikationstechnologien. Für seine außergewöhnliche Leistung gewann Jonas Nay, der Protagonist des Spielfilms, den deutschen Förderpreis 2011.

Verschiedene Definitionen

Cyber-Mobbing bei Kindern und Jugendlichen ist sowohl an Schulen als auch in Familien immer öfter ein ernstes Thema. Das noch sehr junge Phänomen, das erstmals in den 1990er in den USA auftauchte, reizt mittlerweile etliche Wissenschaftler und Psychologen. So auch den Diplom-Psychologen Dr. Torsten Porsch von der Westfälischen Wilhelm-Universität in Münster. Der wissenschaftliche Mitarbeiter forscht seit 2009 zusammen mit seiner Kollegin Dr. Stephanie Pieschl zum Thema und spricht mit uns über die Ursachen, Bedeutungen und Folgen von Cyber-Mobbing. Der Begriff Cyber-Mobbing ist in aller Munde, beschreibt aber selten das gesamte Phänomen. „Oft wird Cyber-Mobbing eng angelehnt an Schulmobbing, das ist aber unzureichend“, klärt der frisch promovierte Psychologe auf. „Betroffene können allen Alters sein, nur liegen zu älteren Opfern kaum Studien vor“, ergänzt Porsch. Daher gehen die Beschreibungen von Cyber-Mobbing meist nicht weit genug. „Cyber-Mobbing meint alle Formen von Schikane, Verunglimpfung, Betrug, Verrat und Ausgrenzung mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien, bei denen sich das Opfer hilflos oder ausgeliefert und emotional belastet fühlt“, definiert Porsch den kontrovers diskutieren Begriff. Oft wissen die Betroffenen nichts über die Inhalte, die hinter ihrem Rücken verbreitet werden. Auch das ist Mobbing, bezieht der Psychologe klar Stellung. Die Diffamierungen verbreiten die Täter meist als Nachricht, Foto oder – wie im Fall von Jakob – als Video im Internet oder über das Handy.

Die Anonymität im Netz

Viele Jugendliche sind in sozialen Netzwerken angemeldet und nutzen diese zum Gedankenaustausch oder zum Kommentieren und Bewerten von Fotos oder Videos. Die Funktionen der einzelnen Plattformen erweitern sich stetig und geben den Nutzern eine fast unvorstellbare Bandbreite an Möglichkeiten Inhalte und Gedanken mit anderen zu teilen. „Im Jahr 2007 waren es vor allem die Chat-Räume, über die Cyber-Mobbing ausgeübt wurde. Doch der Trend geht immer mehr zu den Sozialen Netzwerken. Gerade weil diese alle Funktionen vereinen – Chats, Bilder und Videos“, erklärt Porsch. Die Nutzer von Facebook oder Mein-VZ können ihre „Freunde“ nach engen Vertrauten oder Bekannten sortieren, in bestimmte Gegenden oder Gruppen einteilen. Bei mehr als 200 „Freunden“ ist ungewiss, wer auch als realer Kontakt existiert. Dank Kunstnamen weiß man meist gar nicht mehr, wer hinter der Person steckt – selbst in sozialen Netzwerken nimmt die Anonymität immer weiter zu. Das macht Cyber-Mobbing im Internet einfacher als direktes Mobbing. „Zum Einen ist die Hemmschwelle niedriger, da das Opfer nicht direkt vor einem steht, sondern in einem digitalen Raum auftritt. Auf der anderen Seite ist es die vermeintliche Anonymität, aus der heraus agiert wird“, bestätigt uns der Experte aus Münster. Trotz dem weiß das Opfer oftmals, wer hinter den Attacken steckt. Insbesondere da die Schnittmenge von Cyber-Mobbing und direktem Mobbing sehr groß ist. 63 Prozent der Opfer von Mobbing seien gleichzeitig Opfer von Cyber-Mobbing, verdeutlicht Torsten Porsch.

Risikofaktoren im Internet

Die Ursachen von Cyber-Mobbing können sehr unterschiedlich sein. Im Fall von Jakob ist es das intime Video, das in die falschen Hände gerät und anschließend der Belustigung der Mitschüler dient. „Jeder kann Opfer werden, allerdings gibt es Risikofaktoren, beziehungsweise ein Risikoverhalten im Chat oder in sozialen Netzwerken. Wer sich im Internet zu einer bestimmten Sache outet oder zu viel von sich preis gibt, kann unter Umständen zum Opfer von Mobbing-Attacken werden“, erklärt uns der erfahrene Psychologe. Darüber hinaus machen viele Kinder und Jugendliche, die bei Facebook und Co. angemeldet sind, oft den Fehler, ihre Profile nicht ausreichend zu schützen. So haben auch Unbekannte Einblick in Vorlieben, Fotos und private Unterhaltungen. Oftmals sind die Mobbing-Attacken über Internet oder Handy für die Täter nur Spaß und dienen für sie als Belustigung. Sie sind sich der tatsächlichen Ausmaße nur selten bewusst, da das Opfer nicht direkt vor ihnen steht. Bei den Gemobbten hingegen kommen die virtuellen Beleidigungen oftmals mit einem viel stärkeren Wirkungsgrad an. Insbesondere wenn die Betroffenen – wie auch Jakob – unter mangelndem Selbstbewusstsein leiden. Darüber hinaus können die Opfer – und gerade hier liegt die Gefahr des Cyber-Mobbings – Tag und Nacht attackiert werden. Die Täter können über das Internet oder via Handy rund um die Uhr in die Privatsphäre des Gemobbten eindringen.

Anzeichen deuten

Die Opfer der Internet- oder Handy-Attacken leiden oftmals unter verschiedenen Symptomen mit den unterschiedlichsten Ausmaßen. Torsten Porsch kennt die Anzeichen: „In schlimmen Fällen zeigen sich Anzeichen von Depressionen, gesellschaftlichen Ängsten oder suizidale Gedanken. Andere hingegen weisen ein aggressiveres Verhalten auf oder haben langfristig Konzentrationsschwächen.“ Auch Jakob leidet stark unter den Attacken. Seine Schulnoten lassen nach, er schottet sich sozial ab und zieht sich zugleich in seine eigene kleine Videotagebuch-Welt zurück. „Der verbale Stein aus dem digitalen Raum belastet die meisten Betroffenen stark“, erläutert Porsch. „Auch die Atmosphäre in der Schulklasse kann sich dadurch schnell verändern“, fügt er hinzu. Die Folgen von Cyber-Mobbing bekommen oftmals drei Gruppen zu spüren: die Täter, die Opfer und das Umfeld in einer Klasse. Daher sollten insbesondere die Lehrer, sobald sie eine Veränderung des Klassenklimas spüren, handeln.

Was tun?

Betroffene Kinder oder Jugendliche sollten sich mit ihren Problemen unbedingt an eine vertraute Person wenden, um problematische Situationen von vornherein zu vermeiden. Torsten Porsch weist die Betroffenen außerdem darauf hin, nie zurück zu mobben. Das sieht in der Realität allerdings oft anders aus: „Viele Opfer werden selbst zu Tätern. Das ist aber der falsche Weg. Oftmals ist es hilfreicher, nicht zu reagieren und die eingehenden Nachrichten blockieren.“ Außerdem sollten die Betroffenen gegebenenfalls ihre Identität in Netzwerken ändern und unbedingt ihr Profil schützen. Bei wiederholten Diffamierungen können die Opfer drei Maßnahmen ergreifen, um Abhilfe zu schaffen und gegebenenfalls strafrechtlich vorzugehen: „Unbedingt sollten sie die Beweise sichern. Dann sollten sie die Mobbing-Attacken beim Anbieter melden und sich Hilfe holen.“ Für die Täter können diese Attacken strafrechtliche Konsequenzen haben. Im Fall von Jakobs Videotagebuch lässt sich gegebenenfalls das Urheberrechtsgesetz anwenden. Dies gilt auch bei der Veröffentlichung von Fotos, die Opfer in intimen oder unangenehmen Situationen zeigen. Außerdem können weitere Paragrafen des Strafgesetzbuches den Tätern zusetzen, so zum Beispiel: § 131 Gewaltdarstellungen, § 185 Beleidigung, § 186 Üble Nachrede, § 187 Verleumdung, § 241 StGB Bedrohung sowie der neue Stalking-Paragraf 238 des StGB.

Prävention als Maßnahme

Der Diplom-Psychologe erklärt, dass es kein Patentrezept gegen die Cyber-Mobbing-Attacken gebe. „Dennoch ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche die richtigen Vorkehrungen treffen. Prävention ist die beste Maßnahme“, ergänzt Torsten Porsch. Kindern mangelt es oftmals am reflektierten, kritischen und ethischen Umgang mit den Medien. Daher sei der Aspekt der Medienkompetenz ein wichtiger Schlüssel zum Schutz vor Cyber-Mobbing. Mit ihrem Programm Surf-Fair treten die Psychologen aus Münster regelmäßig an Schüler, Eltern und Lehrer heran, um diese für den Umgang mit dem Thema Cyber-Mobbing zu sensibilisieren. Heute ziehen sie eine positive Resonanz. Das Projekt erscheint Anfang 2012 als Buch. Wichtig ist, dass sich sowohl die Familien als auch die Schulen mit diesem aktuellen Thema beschäftigen. Der Diplom-Psychologe beziffert, dass 2011 bereits 57 Prozent der Mädchen und Jungen schon einmal in der Schule über dieses Thema gesprochen hätten. Um die Schüler für den Umgang mit den Medien zu sensibilisieren, muss diese Ziffer aber noch steigen. So kann die Anzahl der Cyber-Mobbing-Attacken in den kommenden Jahren vielleicht gesenkt werden.

Jakob konnte mit den Folgen der Internet-Attacken nicht umgehen und nimmt sich letztendlich das Leben. Dieser Extremfall zeigt, welche Tragweite Diffamierungen über das Internet in Kombination mit einem gestörten Sozialverhalten haben können. Um es nicht so weit kommen zu lassen, müssen sowohl die Lehrer als auch die Eltern die Kinder frühzeitig mit dem Thema Internet-Mobbing konfrontieren und sie über die Folgen und Ausmaße eines falschen Umgangs mit dem Medium aufklären. Auch wenn es ein unangenehmes Thema ist, darf es nicht totgeschwiegen werden. Nur so kann man erreichen, dass die Jugendlichen sich im Falle einer Cyber-Mobbing-Attacke wehren und sowohl den Mut als auch die Kraft haben, offen darüber zu sprechen.

 

 



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