1. Wie hat sich das Familienkonstrukt, in dem du jetzt lebst, entwickelt?
Nachdem unser biologischer Kinderwunsch vor Jahren unerfüllt blieb, bewarben mein Mann und ich uns um die Adoption eines Kindes in Russland. Am Ende unseres russischen Adoptionsabenteuers flogen wir mit Maxim und Nadeschda, einem Geschwisterpaar, nach Deutschland. Der fast dreijährige Maxim galt als schwer krank. Bei seiner eineinhalb Jahre alten Schwester traten die tatsächlichen gesundheitlichen Schwierigkeiten erst in Deutschland auf. Dies war der Beginn von vielen Veränderungen, von kleinen und großen Fortschritten, bezaubernden Momenten als junge Familie, aber auch einer Zeit mit harten Schicksalsschlägen und Enttäuschungen.
All das ist mittlerweile einige Jahre her. Wir sind als Familie zusammenwachsen und von außen betrachtet, wird man wahrscheinlich keine Unterschiede zu Familien mit leiblichen Kindern bemerken. Dennoch bleibt die frühe Lebensgeschichte unserer Kinder ein ständiger Wegbegleiter in unserem inneren Alltag als Familie. Und so sind wir bei näherer Betrachtung doch in vielen Aspekten „anders“ als andere Familien. Wir sind vor allem „anders“ Eltern.
2. Wie reagieren Menschen in deinem Umfeld auf eure Familie? Habt ihr euch jemals diskriminiert gefühlt? Wenn ja, in welcher Situation? Wie seid ihr damit umgegangen?
Wir haben irgendwann entschieden, dass es die Entscheidung unserer Kinder ist, wem sie von ihrer Lebensgeschichte und von unserer Familiengeschichte erzählen. Denn primär ist es ihr Lebensweg. Und sie müssen – vielmehr noch als wir Eltern – mit dem Fakt der doppelten Elternschaft, der Heimat in zwei Kulturen und dem „Stigma“ der Adoption klarkommen. Insofern gibt es in unserem Umfeld die Menschen, die von der Adoption wissen und aber auch viele, die es eben nicht wissen. Denn wie gesagt, nach außen wirken wir wie eine völlig normale Familie, mit vielleicht einer etwas überengagierten Helikoptermutter. Die, die dann irgendwann von der Adoption erfahren, reagieren meist mit großer Bewunderung und Wohlwollen auf unsere Familiengründungsgeschichte. Richtig diskriminiert gefühlt haben wir uns nur ein einziges Mal. Das war bei Maxims Vorschuluntersuchung. Die Schulärztin hatte alle erdenklichen Vorurteile, die es über Kinder, die in einem russischen Kinderheim gelebt haben, ausgepackt. Wir waren einfach sprachlos. Am Ende war es unser Ausstieg aus dem Regelschulsystem. Vielmehr aber frustriert, ärgert und ermüdet das so große Unwissen, Nachempfinden und Abstrahieren von der Norm gerade in „Fachkreisen“. Damit meine ich Pädagogen, Therapeuten und Ärzte. Das begegnet uns immer wieder. Das ahnungslose Abtun der frühen Leiden und Schmerzen meiner Kinder aufgrund von Ahnungslosigkeit hat mich lange wütend gemacht, heute macht es mich nur noch müde.
3. Auf einer Skala von 0 bis 10: Wie sehr empfindest du dein Familienmodell als von der Gesellschaft akzeptiert?
(0 = überhaupt nicht akzeptiert, 10 = vollständig akzeptiert)
5 hätte ich gesagt, aber nicht wegen der gesunden Mitte, sondern weil es viele in der Gesellschaft gibt, die tatsächlich großen Respekt und Bewunderung haben für die Verantwortung, die wir als Eltern übernommen haben; aber es gibt ebenso mindestens genauso viele, die voll sind mit Vorurteilen aufgrund von Nichtwissen und Ahnungslosigkeit. Und wenn ich die Gesellschaft mit dem Staat gleichsetze, dann ist unser Familienmodell nur bedingt akzeptiert. Denn in vielerlei Hinsicht werden Adoptivfamilien finanziell benachteiligt, so etwa bei der steuerlichen Absetzbarkeit der Adoptionskosten (reproduktionsmedizinische Kosten dürfen als Sonderausgaben abgesetzt werden, Reisekosten und Verwaltungsgebühren für eine Adoption nicht) oder auch der Gleichstellung in der Mütterrente.
Über Charlotte Weiss
Charlotte Weiss und ihr Mann adoptierten vor einigen Jahren ein Geschwisterpaar aus Russland. Ihr Sohn Maxim war damals drei Jahre alt, seine kleine Schwester Nadeschda fast zwei. Mit der Adoption gab Charlotte Weiss ihren vorherigen Job in der Kommunikationsbranche auf und entschied, bis auf Weiteres sich ausschließlich der Förderung und Begleitung ihres Sohnes und ihrer Tochter zu widmen. Auf charlottesadoptionsblog.com veröffentlicht sie seit 2015 Kolumnen und Beiträge über ihren Alltag als Adoptivfamilie und über Themen und Herausforderungen, die Adoptivfamilien begegnen und sie als Adoptivmutter bewegen. Neben der intensiven Auseinandersetzung mit der Adoptionsliteratur organisiert Charlotte Weiss Familientreffen, Workshops und Supervisionen für Adoptivfamilien.
Liebe Elternblogger, macht mit!
Familie ist etwas Einzigartiges und sieht für jeden Menschen anders aus. Wir wollen wissen, wie das bei Euch ist. Deshalb rufen wir alle Elternblogger, die sich in unseren Interviews wiederfinden, auf: Meldet euch bei uns unter julia.schambeck@care.com! Erzählt uns von euren Familien, euren Erfahrungen und eurem kleinen persönlichen Glück.
Alle Leser ohne eigenen Blog können uns gern in einem Kommentar unter diesem Artikel erzählen, was ihre Familie für sie so einzigartig macht. Wir sind gespannt auf Eure Geschichten!
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