Alfred lächelt den Betrachter mit verschmitztem Blick an. Seine Augenbrauen sind dunkel, die Gesichtszüge markant. Mit seinen attraktiven Gesichtszügen und dem verwegen zerzausten Haar erinnert er ein wenig an den Schauspieler Robert Pattinson. Man kann sich leicht vorstellen, welche Wirkung dieser junge Mann auf Frauen gehabt haben muss.
Jugend vergeht
Das schwarz-weiß Portrait von Alfred Maurer ist inzwischen 53 Jahre alt und hängt an der Tür zu seinem Zimmer in einem Pflegeheim für Demenzkranke. Hier sind die Räume der Bewohner durch Fotos gekennzeichnet. Von den meisten Bildern lächeln dem Betrachter junge, attraktive Menschen entgegen.
Sie erinnern beinahe mahnend daran, dass Jungend und Gesundheit nicht ewig andauern. Auch Alfred musste dieser Tatsache eines Tages in Auge blicken. Zuerst vergaß der leidenschaftliche Raucher seine Zigaretten, dann machte ihm der Fernseher angst. Die Demenz hatte schleichend ihren Lauf genommen.
Der Wunsch nach Eigenständigkeit
Nun sitzt der 72jährige in seinem bequemen Sessel und versucht dem zuständigen Pfleger klar zu machen, dass er dringend auf die Toilette muss. Sein Sprachvermögen ist stark eingeschränkt und auch für den kurzen Weg zum Badezimmer ist er auf fremde Hilfe angewiesen. Oft weiß er nicht mal mehr, dass die Toilette der richtige Ort ist um sich zu erleichtern. Manchmal verwechselt er den Nachttisch oder die Zimmerecke mit dem Lokus. Dennoch möchte er den letzten Rest seiner Eigenständigkeit so lange wie möglich erhalten. Daher wehrt sich der Rentner bisher erfolgreich gegen Windeln.
Gewalt hat viele Gesichter
Der Pfleger ist genervt. Er hat soeben erfahren, dass er eine Zusatzschicht für einen erkrankten Kollegen einlegen muss. Dies passt ihm gar nicht, da seine Beziehung schon jetzt, wegen seiner ständigen heimischen Abwesenheit, auf der Kippe steht. Er wird ungeduldig und reagiert genervt auf Alfreds mühselige Sprechversuche. „Ich habe noch mehr Patienten, was meinen Sie, wenn das jeder machen würde!“, speist er den Rentner grob ab. Dann zieht er Alfred gegen seinen Willen eine Windel an und verlässt eilig das Zimmer. Sein Patient bleibt hilflos und voller Scham zurück. Alfred findet das Verhalten des Pflegers nicht korrekt. Um genau zu sein, fühlt er sich gedemütigt und misshandelt. Doch kann man in so einem Fall bereits von Gewalt sprechen?
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Nach der Online-Enzyklopädie Wikipedia wird „Gewalt“ im soziologischen Sinne als eine Quelle der Macht verstanden. Dort heißt es: „Im engeren Sinn wird darunter häufig eine illegitime Ausübung von Zwang verstanden: Der Wille dessen, über den Gewalt ausgeübt wird, wird missachtet oder gebrochen.“ Die Missachtung eines Bedürfnisses ist also als Gewalt anzusehen. Spricht man über das Thema „Gewalt in der Pflege“, ist die Klarstellung dieses Begriffs sehr wichtig. Viele Betroffene und Angehörige haben zwar ein schlechtes Gefühl, wenn sie unrechtes Handeln beobachten, wissen jedoch oft nicht, wann die Grenze zur Misshandlung oder Aggression überschritten ist. Aus Angst und Unsicherheit werden Vorfälle verschwiegen. Oft auch deswegen, weil unklar ist, ob und wie man dagegen vorgehen kann. Die Dunkelziffer wird daher als sehr hoch eingeschätzt. Grundsätzlich gilt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und auch Artikel zwei des Grundgesetzes geht auf das Thema ein: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Pflege sollte immer zum Wohle des einzelnen Patienten geschehen und dabei die menschliche Würde nicht missachten.
Ursachen der Gewalt
Die Formen von Gewalt sind vielfältig. Sie kann physisch oder psychisch ausgeübt werden und geht von ablehnendem, ungeduldigem Verhalten bis hin zu aggressiven, körperlichen Angriffen. Oft wird auch das Schamgefühl nicht beachtet, der Mensch wird bei offener Tür gewaschen oder darf den ganzen Tag nur Nachthemd und Bademantel tragen. Ebenso facettenreich sind die Ursachen für das Auftreten solcher Vorfälle. Am häufigsten sind Belastungsfaktoren der Grund für Fehlverhalten, dicht gefolgt von Kommunikationsproblemen und den daraus resultierenden Missverständnissen. Manchmal spielen auch externe Faktoren eine Rolle, wie familiäre Probleme oder einfach die Ähnlichkeit des Patienten zu einem unsympathischen Bekannten. Gerade die Pflege von dementen Patienten ist sehr zeitintensiv und psychisch und physisch belastend für die Betreuer. Viele bleiben nicht länger als fünf Jahre im dem Beruf, weil sie den harten Arbeitsbedingungen nicht mehr gewachsen sind. In einigen Fällen geht die Gewalt aber auch vom Patienten aus, weil er frustriert und vernachlässigt ist, oder langsam die Kontrolle über seine Emotionen verliert.
Was Angehörige tun können
Angehörige von Pflegebedürftigen können kaum Einfluss auf die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals nehmen. Daher sollte man bereits bei der Auswahl der Einrichtung auf gestresstes und überlastetes Pflegepersonal und Anzeichen für schlechte Arbeitsbedingen achten. Manchmal geht die Einweisung in ein Heim jedoch so schnell, dass keine genaue Beobachtung der Umgebung möglich ist. Daher lautet der wichtigste Lösungsweg für Gewalt in der Pflege: Kommunikation. Trauen Sie sich den Betreffenden anzusprechen. Klären Sie die verschiedenen Standpunkte und hören Sie dabei aufmerksam zu. Nehmen Sie eindeutig Position ein und haben Sie nicht immer Verständnis. Rufen Sie sich den ersten Artikel des Grundgesetzes in Erinnerung, wenn nötig. Wenn Sie zu keinem Ergebnis kommen, suchen Sie den nächst höheren Vorgesetzten auf oder wenden Sie sich an eine externe Beratungsstelle (zum Beispiel die Diakonie oder andere ökumenische Initiativen), die Pflegekasse oder die Polizei. Diese überlegen dann gemeinsam mit Ihnen, wie Sie mit dem Vorfall umgehen können.
Gewalt ist keine Lösung
Egal ob Angehöriger, Patient oder Pfleger: Gewalt ist keine Lösung. Warten Sie nicht ab, sondern ergreifen Sie Maßnahmen, um die Lebensqualität in Pflegeheimen zu erhöhen und mehr Menschlichkeit in der Pflege zu schaffen.