228_big

Wenn Kinder stottern

Die Logopädin Julia Morgenstern im Interview

Bei vielen Kindern treten im Alter zwischen drei und fünf Jahren Sprechunflüssigkeiten auf, die im schlimmsten Fall länger andauern können und sich zu einem Stottern entwickeln. Ein Artikel über Ursache und Therapie.

 The King’s Speech

The King’s Speech zählt zu den erfolgreichsten Filmen des Jahres 2010. Mit vier Oscars in den Kategorien bester Film, beste Regie, bestes Originaldrehbuch und bester Hauptdarsteller begeisterte er ein Millionenpublikum. Der Hauptdarsteller Colin Firth spielt in der Filmbiografie König Georg VI., der auf Grund seines Stotterns eine Rundfunkansprache zum Fiasko werden lässt. Nach etlichen Therapiesitzungen bei dem australischen Sprachtherapeut Lionel Logue, die er zwischendurch immer wieder abbricht, gelingt es dem König letztendlich, eine stotterfreie Ansprache im Rundfunk zu halten.
Die Geschichte geht tiefgründig in das Leben König Georg VI. ein und deutet eindrucksvoll den Umgang mit seiner Sprachbehinderung.

Stotteranzeichen

Wie dem ehemaligen König von England geht es heute circa einem Prozent der erwachsenen Deutschen und drei bis fünf Prozent der Kinder. Dabei handelt es sich um wiederkehrende Unterbrechungen im Sprechablauf durch Wiederholungen, Dehnungen oder Blockierungen von Lauten, Silben und Wörtern. Ein Beispiel ist: „Die-die-die Katze ist mein Lieblins-t-t-t-ier“. Hinzu kommen sogenannte Begleitsymptomatiken wie Mitbewegungen des Gesichtes, Veränderung der nonverbalen Kommunikation durch zum Beispiel Vermeidungsverhalten, einem fehlenden Blickkontakt, vermehrtem Schwitzen oder eine veränderte Atmung.

Ursachen

„Die Ursachen für das Stottern können nicht eindeutig belegt werden“, erklärt die examinierte Logopädin Julia Morgenstern aus Berlin. Seit einem Jahr therapiert sie Kinder, die Sprechunflüssigkeiten aufweisen. „Es steht fest, dass das Stottern bei Kindern nicht durch das Verhalten der Eltern ausgelöst wird“, ergänzt die Logopädin. „Stottern beginnt meist im Alter zwischen zwei und fünf Jahren, selten auch noch später, meist ohne offensichtlichen Anlass“, weist Morgenstern hin.
Experten gehen davon aus, dass Kinder in dieser Phase eine Sprachentwicklung durchlaufen, in der Denken und Sprechen nicht miteinander Schritt halten können, da das zentrale Nervensystem noch nicht vollständig ausgereift sei. Zu erwähnen ist darüber hinaus, dass etwa doppelt so viele Jungen wie Mädchen beginnen zu stottern. Mädchen verlieren das Stottern häufiger wieder, wodurch das Verhältnis auf 5:1 anwächst. Warum mehr Jungen als Mädchen betroffen sind, kann man nicht genau nachweisen.
Stottern tritt in allen Kulturen auf. Es gibt 4.000 Jahre alte Schriftstücke, die von stotternden Menschen zeugen.

Die Logopädin geht davon aus, dass die Sprechunflüssigkeiten durch wechselseitige Einflüsse aus Sprachentwicklung, körperlichen Ursachen und dem Umfeld des Kindes bedingt sind. Andere Quellen behaupten zudem, dass es eine genetische Veranlagung gibt, da es gehäuft familiär auftritt. Stottern ist keinesfalls eine psychische Störung, sondern eine körperlich bedingte Sprechbehinderung.

Posttraumatisches Stottern

Stottern kann unter Umständen nach einem traumatischen Erlebnis eintreten. „Das sogenannte posttraumatische Stottern – auch psychogenes Stottern genannt – tritt vor allem nach psychischen Traumata wie Missbrauch, Verlust, Unfällen etc. auf“, erklärt die Logopädin aus Berlin. „Es setzt plötzlich mit dem bedeutungstragenden Erlebnis ein, ist in der Untersuchungssituation unbeeinflussbar und die Symptomatik besteht kontinuierlich“, so Morgenstern.

Formen und Therapie

Allgemein teilt man das Stottern in drei Stadien ein:

  • entwicklungsbedingte Unflüssigkeiten
  • beginnendes Stottern
  • chronisches Stottern

 

Morgenstern rät eine aktive Therapie ab dem beginnenden Stottern. Bei den entwicklungsbedingten Unflüssigkeiten empfiehlt die Logopädin eine Therapie vor allem in Form von Elternarbeit. „Im Allgemeinen müssen die Faktoren mitbeachtet werden, die das Stottern entstehen lassen und die, die es aufrecht erhalten“, erklärt die erfahrene Sprechtherapeutin aus Berlin.

 

„Stottern ist nicht heilbar, aber gut therapierbar“, klärt die Logopädin auf. Eine Therapie dauert bei jedem Patienten unterschiedlich lange. Daher können zu der Dauer keine genauen Angaben gemacht werden. Inhalte der Therapie sind vor allem:

  • dem Stotternden die Angst zu nehmen
  • flüssiges Sprechen üben
  • weniger anstrengende Sprechweisen erlernen und diese in den Alltag übernehmen
  • Gefühl für Sprech- und Atemrhythmus entwickeln

 

Darüber hinaus zählt Morgenstern die folgenden therapeutischen Maßnahmen auf:

  • die Veränderung der Sprechweise – Erlernen verschiedener Sprechtechniken, die helfen das Auftreten von Sprechunflüssigkeiten zu verhindern
  • die Veränderung der eigenen Reaktionen beim Auftreten von Sprechunflüssigkeiten
  • Günstige Beeinflussung der typischen Begleitsymptome wie Vermeidungsverhalten und Sprechangst
  • Steigerung des Selbstwertgefühls

 

Die Sitzungen unterscheiden sich in Einzel- und Gruppentherapien als auch in ambulante und stationäre Therapien. „Auch alternative Heilmethoden wie Hypnose, Akupunktur, Entspannungsverfahren, technische Hilfsmittel und Psychotherapie werden vereinzelt angeboten“, erwähnt die Logopädin. „Dazu sind aber keine Wirksamkeitsnachweise bekannt.“

Neben der physischen Behinderung können bei einigen Stotterern psychische Belastungen oder Probleme auftreten, wie zum Beispiel emotionale Reaktionen, Störungsbewusstsein und Leidensdruck oder eine eingeschränkte Frustrationstoleranz.

Hilfe der Eltern

Eltern können ihrem Kind eine besondere Hilfe sein, wenn sie das Selbstbewusstsein des Schützlings stärken  und ihm zeigen, dass Sprechen Spaß macht. Außerdem sollten Eltern ein gutes Sprachvorbild sein. Es kann auch helfen, wenn die Familie viele stotterfreie und stressfreie Situationen schafft und genau darauf achtet, in welchen Situationen das Kind zu stottern beginnt.

Das Kind entwickelt so nach und nach genügend Bewusstsein, um flüssig zu sprechen ohne eine Sprechangst zu entwickeln. Stottern ist in jedem Fall nichts schlimmes und kann therapiert werden.  Wunderheiler können an dieser Stelle nur wenig weiter helfen. Viel wichtiger ist die Unterstützung der Familie und Freunde und viel Ausdauer und Geduld. Denn die erlernten Techniken muss der Betroffene immer wieder üben.
So auch König Georg VI. Im Film „The King’s Speech“. Mit der aktiven Hilfe seines Therapeuten gelang es ihm letztendlich eine stotterfreie Ansprache zu halten. Auch wenn der Weg dahin hart und mühsam war.

 



Diesen Artikel kommentieren
*

*