Was sind Glaskinder? Das müssen Eltern wissen

Experten erklären, was es bedeutet, ein Glaskind zu sein

Wie Eltern und Betreuungspersonen die speziellen Bedürfnisse dieser Kinder besser verstehen können.

Der Begriff „Glaskind“ oder „Schattenkind“ wird in der Behindertenhilfe häufig verwendet, um das Geschwisterkind eines Kindes mit einer Behinderung zu beschreiben. Aber dank TikTok ist der Begriff in letzter Zeit sogar in Gesprächen über die mentale Gesundheit und die Vernachlässigung durch Betreuungspersonen in aller Munde.

In den sozialen Medien zeigt sich, dass einige, aber sicher nicht alle Geschwister von Menschen mit Betreuungsbedarf sich als Glaskinder oder Schattenkinder identifizieren, weil sie sich für Eltern, andere Familienmitglieder und Fachleute unsichtbar fühlen. Wenn der Großteil an Zeit, Aufmerksamkeit und Energie der Betreuungspersonen auf das Kind mit Unterstützungsbedarf entfällt, kann dies den anderen Geschwistern ungewollt die Botschaft vermitteln, dass sie nicht wichtig sind.

Der Begriff „Glaskind“‚ wurde ursprünglich von Alicia Meneses Maples in ihrem TEDx-Vortrag „Recognizing Glass Children“ von 2010 in San Antonio geprägt. Martles wuchs mit einem Bruder mit Autismus und einem weiteren mit einer unheilbaren Krankheit auf. Sie betont, dass Glaskinder so genannt werden, weil ihre Bedürfnisse unsichtbar sind, nicht weil sie zerbrechlich sind. Tatsächlich sind sie oft genau das Gegenteil von zerbrechlich.

„Die Stärke, die wir [als Glaskinder] entwickeln, hat ihre Wurzeln im Trauma“, so Maples. „Um die Erfahrungen, die wir machen, zu überleben, entwickeln wir ein tiefes Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit, scheinbar mühelos mit stressigen Situationen umzugehen, Entschlossenheit und Perfektionismus, um das Leben unserer Eltern nicht zu stören. Wir sind sehr stark – bis wir es nicht mehr sind.“

Aufgrund der gravierenden psychischen Probleme, die Glaskinder erleiden können, setzt sich Maples dafür ein, dass Geschwister wie sie selbst Zugang zu professioneller Unterstützung und Intervention haben. Wir haben mit ihr und anderen Expertinnen und Experten darüber gesprochen, was es bedeutet, ein Glaskind zu sein, und wie Betreuungspersonen die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder besser verstehen können.

Was ist ein Glaskind?

Ein Glaskind oder Schattenkind ist das Geschwisterkind eines Menschen, der die ständige und ununterbrochene Unterstützung seiner Bezugspersonen benötigt. Der Grund für den Bedarf an zusätzlicher Unterstützung kann eine körperliche oder geistige Behinderung, eine Krankheit oder auch eine Verhaltensstörung sein.

Der Begriff „gläsern“ impliziert, dass diese Kinder sich oft transparent oder übersehen fühlen, weil die Bedürfnisse ihrer Geschwister ein erhebliches Maß an Aufmerksamkeit und Ressourcen von ihren Eltern verlangen. Dieser Begriff ist keine offizielle medizinische oder psychologische Diagnose, sondern ein deskriptiver Begriff, mit dem die potenziellen emotionalen und psychologischen Herausforderungen dieser Kinder hervorgehoben werden sollen.

Die häufigsten Herausforderungen, denen Glaskinder begegnen

Emotionale Vernachlässigung und Abwertung: Eltern bagatellisieren oder ignorieren oft den empfindlichen emotionalen Zustand ihres Glaskindes, weil sie überfordert sind. Bei der Reaktion auf schwierige emotionale Situationen hören Glaskinder oft Phrasen wie: „Hör auf zu weinen“, „Beruhige dich“, „Du übertreibst“ oder „Warum jammerst du?“.

Parentifizierung: Von Parentifizierung spricht man, wenn ein Kind gezwungen wird, die Rolle der Betreuungsperson für sein Geschwisterkind mit besonderen Bedürfnissen zu übernehmen. Dies kann zu Ängsten, Schuldgefühlen und sowohl physischer als auch emotionaler Erschöpfung führen.

Erlebtes Trauma: Viele Glaskinder, deren Geschwister eine Krankheit haben, werden Zeugen traumatischer medizinischer Ereignisse, wie Krampfanfälle, Reanimation oder Notfallbehandlungen. Dabei versäumen es die Eltern oft, ihnen nach einem solchen Trauma die nötige Unterstützung zu geben, was zu dauerhaften negativen Auswirkungen wie einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen kann.

Verhaltensmuster und emotionale Besonderheiten eines Glaskindes

In jungen Jahren kann der Mangel an familiärer Unterstützung und Zeit mit einem Elternteil mit Gefühlen von Traurigkeit und Einsamkeit einhergehen. Als Folge davon können sich Glaskinder aus dem familiären Umfeld zurückziehen oder alternativ durch rebellisches Verhalten Aufmerksamkeit suchen. Negative Aufmerksamkeit ist manchmal besser als gar keine Aufmerksamkeit, wenn sie emotionale Vernachlässigung erfahren.

Perfektionismus ist eine weitere verbreitete Eigenschaft, die sich bei Geschwistern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen entwickeln kann. Glaskinder sind sich oft sehr bewusst, dass ihr Geschwisterkind mehr „braucht“ als sie selbst und sind dann unbewusst darauf trainiert, Probleme oder schwierige Gefühle zu verbergen. Perfektion ist der erwartete Standard, weil sie ihre Eltern nicht weiter belasten wollen.

Wenn ein Glaskind in seiner Kindheit auf diese Weise überkompensiert, kann sich das in seinen Erfahrungen, Gefühlen und Beziehungen manifestieren, wenn es älter wird.

Expertinnen und Experten zufolge leiden Glaskinder im jungen Erwachsenenalter oft unter schweren Angststörungen oder Depressionen. Glaskinder entwickeln das Gefühl, dass sie nicht um Hilfe bitten können, sodass sie ihre Emotionen in sich hineinfressen. Wenn das passiert, kann es sein, dass die Heranwachsenden sich maladaptiven Bewältigungsstrategien zuwenden, oder Taktiken, um mit Stressoren auf ungesunde Weise umzugehen, wie etwa dem Konsum von Drogen oder Alkohol. 

Was ist ein erwachsenes Glaskind?

Ein erwachsenes Glaskind ist mit einem Geschwisterkind mit besonderen Bedürfnissen aufgewachsen und hat keine Hilfe erhalten, um seine Erfahrungen mit Vernachlässigung und Trauma zu verarbeiten. Erhielt ein erwachsenes Glaskind keine Hilfe, so treibt es in einem psychologischen Sumpf aus unbehandeltem Trauma, Missbrauch, Vernachlässigung und ständigen Gefühlen der Wertlosigkeit. Das kann dazu verleiten, sich auf schädliche Bewältigungsstrategien einzulassen, die schwerwiegende Folgen im Erwachsenenalter haben.

Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und Forschungen hat Maples herausgefunden, dass erwachsene Glaskinder zu diesen maladaptiven Bewältigungsstrategien greifen können:

  • Neigung zu ungesunden Beziehungen und Menschen in Schwierigkeiten, einschließlich solcher, die mit Sucht oder toxischen und missbräuchlichen Verhaltensweisen zu kämpfen haben.
  • Kodependenz oder übermäßige Abhängigkeit von anderen in Bezug auf ihre eigenen emotionalen und psychologischen Bedürfnisse.
  • Kämpfe mit Sucht, Selbstverletzung und Selbstmordgedanken.

Woher weiß ich, ob ich ein Glaskind habe?

Wie können Sie feststellen, ob Sie ein Glaskind haben? Nun, eine der besten Methoden, um zu erkennen, ob Ihr Kind sich nicht ausreichend unterstützt fühlt, ist es, es zu fragen. Offene Fragen sind der beste Weg, um mehr über die Gefühle Ihres Kindes zu erfahren. Ein Elternteil könnte zum Beispiel sagen: „Bei deinem Bruder ist im Moment viel los. Wie fühlt sich das für dich an?“

Außerdem wird empfohlen, dass Ihr Kind zusätzliche Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigt, wenn Sie eine der folgenden Verhaltensweisen bei ihm beobachten:

  • Ängstlich
  • Deprimiert
  • Zurückgezogen
  • Wütend
  • Nachlassendes Interesse an Freundinnen und Freunden
  • Schlechte schulische Leistungen
  • Übertriebener Leistungswille
  • Rebellisch
  • Verlust von Interesse an Aktivitäten, die früher Spaß gemacht haben, wie Sport oder Musikunterricht
  • Verhaltensänderung, um Aufmerksamkeit zu bekommen

Da Glaskinder darauf trainiert sind, ihre Probleme zu verbergen, zeigen sie oft keine Anzeichen für emotionale Krisen. Sie wirken wie außergewöhnlich ausgeglichene Kinder, die oft gute Noten haben und bei außerschulischen Aktivitäten erfolgreich sind. Diese Faktoren verstärken auf den ersten Blick den Eindruck, dass es ihnen tatsächlich gut geht. Das aber steht im Widerspruch zur Realität: Die Kinder übertreiben, um den Stress für ihre Eltern und ihre Familie zu minimieren. 

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Wege zur Unterstützung von Geschwistern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen

Eltern sollten davon ausgehen, dass ihr Geschwisterkind sowohl positive als auch negative Gefühle in Bezug auf seine einzigartige Rolle als Geschwisterkind eines Menschen mit Behinderungen hat.

In diesem Sinne ermutigen Fachleute die Eltern, von Anfang an proaktiv eine gesunde Familiendynamik zu entwickeln, und zwar mit den folgenden Taktiken:

Offene Kommunikation aufbauen

Wenn sich Betreuungspersonen die Zeit nehmen, Fragen zu stellen und ein offenes, ehrliches Gespräch zu ermöglichen, kann das für Glaskinder einen enormen Unterschied ausmachen. Manchmal stellen Eltern die Fragen nicht, weil sie aufgrund ihrer eigenen Sorgen und Ängste die Antworten fürchten. Oder sie fürchten, dass sie selbst keine Antworten haben. Die gute Nachricht ist, dass Eltern und Betreuungspersonen nicht alle Antworten kennen müssen. Oft hilft schon das Zuhören enorm.

Die Gedanken und Gefühle der Kinder respektieren

Eine offene Kommunikation setzt auch voraus, dass die Eltern die Sichtweise des Geschwisterkindes anerkennen und respektieren. Anstatt schwierige Gefühle zu verdrängen, sollten Eltern fragen, was das Glaskind vorschlagen würde, um die Dinge zu verbessern. Unabhängig vom Alter des Geschwisterkindes sollte man sich nicht wundern, wie einfühlsam und weise es ist. Seien Sie offen für die Vorschläge des Kindes – vielleicht funktionieren sie ja.

Regelmäßige Zeit für ein Gespräch mit den Geschwistern

Eltern sollten versuchen, sich regelmäßig Zeit für das Geschwisterkind zu nehmen, damit es etwas tun kann, was es gerne tun möchte. Das gibt dem Glaskind etwas, worauf es sich verlassen kann, wenn so vieles in seiner Welt chaotisch oder unzuverlässig ist. Beispielsweise kann ein Elternteil sich jeden Tag mindestens 20 Minuten nur dem Lesen mit dem Geschwisterkind widmen.

Diese persönliche Zeit, die ein Kind oder Jugendlicher mit einem Elternteil oder einer Betreuungsperson verbringt, gilt als „besondere Zeit“. Die folgenden Tipps können Ihnen dabei helfen, sie so wirkungsvoll wie möglich zu gestalten:

  • Nehmen Sie sich diese Zeit täglich.
  • Verschieben Sie diese Zeit nicht und nehmen Sie sie nicht als Bestrafung für negatives Verhalten weg.
  • Lassen Sie keine Unterbrechungen zu, auch nicht durch Telefonate.
  • Legen Sie eine von anderen Aktivitäten getrennte Zeit fest, damit Sie sich voll und ganz auf Ihr Kind konzentrieren können.

Bemühen Sie sich um eine gerechte Verteilung der Ressourcen

Wann immer möglich, sollten Sie versuchen, Zeit, Aufmerksamkeit und sogar finanzielle Ressourcen gleichmäßig auf alle Kinder zu verteilen, auch wenn das Kind mit den größeren Bedürfnissen dadurch ein Opfer bringen muss.

Beginnen Sie damit, alle Gesundheits- und Sicherheitsbedürfnisse zu erfassen. Vielleicht braucht das Kind mit den besonderen Bedürfnissen eine Therapie, auf die es nicht verzichten kann, aber vielleicht können Sie für eine bestimmte Zeit auf eine Sitzung statt zwei reduzieren, damit das andere Kind die Möglichkeit hat, an einem Sport teilzunehmen.

Ein weiteres Beispiel für einen gerechten Umgang mit den Ressourcen ist, dass man nicht nur einen Babysitter für das Kind ohne besondere Bedürfnisse einstellen sollte. Möglicherweise müssen Sie Betreuungspersonen und Babysitter finden, die eine andere Qualifikation haben, um ein Kind mit besonderen Bedürfnissen zu betreuen, aber das wird die Kinderbetreuung gerechter machen.

Falls möglich, verteilen Sie die Aufgaben der Betreuungspersonen

Falls es mehrere Betreuungspersonen gibt, sollten die Aufgaben nach Möglichkeit aufgeteilt werden, damit alle Kinder immer eine Betreuungsperson zur Seite haben. Wenn ein Geschwisterkind die Verantwortung für ein Kind mit besonderen Bedürfnissen übernehmen soll, sollte dies immer das Ergebnis eines Gesprächs und nicht einer Anordnung sein.

Anordnungen und Forderungen erzeugen Unmut, also bitten Sie darum und erklären Sie, warum. Dann finden Sie einen Weg, wenn möglich, wie das Kind, das eine zusätzliche Verantwortung erhält, auch ein besonderes Privileg bekommt. Auch unterstützende und bestärkende Aussagen wie „Ich weiß, dass dies schwer ist und dass es für unsere Familie schwer ist. Wir wissen deine Hilfe wirklich zu schätzen“ sind hierbei sehr hilfreich.

Bauen Sie eine Gemeinschaft für Geschwisterkinder auf

Egal wie offen ein Elternteil zu sein versucht, Geschwisterkinder, ob jung oder erwachsen, profitieren davon, sich mit anderen Geschwisterkindern auszutauschen, die einige ihrer einzigartigen Erfahrungen teilen. Das kann eine Selbsthilfegruppe für Geschwister von Menschen mit Behinderungen sein, die Sie über nationale Programme finden können.

Suchen Sie Unterstützung als Familie

Sprechen Sie mit dem medizinischen Betreuungspersonal und der Schule Ihres Kindes, um herauszufinden, ob es dort zusätzliche Unterstützungsangebote gibt. Das kann für viele Jahre einen sehr großen Einfluss auf die Geschwister haben.

Auch eine Familientherapie kann helfen, die komplexe Familiendynamik zu bewältigen und alle Beteiligten über die Erkrankung des Kindes aufzuklären, um Verständnis und Empathie zu fördern. Wenn Glaskinder in einer altersgerechten Weise in die Betreuung ihrer Geschwister einbezogen werden, hilft ihnen das auch, sich integrierter und geschätzter zu fühlen.

Fazit: So unterstützen Sie Glaskinder

Obwohl es sich nicht um eine klinische Diagnose handelt, kann der Begriff „Glaskind“ oder „Schattenkind“ für Betreuungspersonen nützlich sein, um ein besseres Verständnis für die einzigartigen Erfahrungen von Geschwistern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen zu erlangen. Geschwisterkinder eines Kindes mit hohem Förderbedarf sind in den meisten Fällen Glaskinder, erklärt Maples. Dies bedeutet nicht, dass die Eltern etwas falsch machen. Es liegt in der Natur der Sache, dass es an Unterstützung für Familien mit hohem Förderbedarf mangelt.

Gleichzeitig sind die Erfahrungen von Geschwistern nicht nur rein gut oder schlecht, sondern zu unterschiedlichen Zeiten auch alles zwischendrin. Zu den einzigartigen Möglichkeiten, die sich Geschwistern bieten, gehören eine große Toleranzfähigkeit, die Fähigkeit, sich für andere einzusetzen, und für viele Geschwister auch eine Berufung in helfenden Bereichen.

Um Glaskinder zu unterstützen, sollten Betreuungspersonen eine offene Kommunikation aufbauen und die Ressourcen so gleichmäßig wie möglich verteilen. Fachleute empfehlen auch die Teilnahme an Programmen, die den Wert der Vernetzung von Geschwistern behinderter Kinder betonen, damit sie ihre Freuden und Herausforderungen miteinander teilen können.



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