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Jesper Juul: Diskussion mit dem dänischen Familientherapeuten

Präsentation der Streitschrift „Wem gehören unsere Kinder“

Der bekannte Familientherapeut Jesper Juul in Berlin diskutierte mit Eltern, Pädagogen und Therapeuten über sein Buch „Wem gehören unsere Kinder?“. Ein interessantes Gespräch über die Qualität von Kitas, neue Erziehungsansätze und das Betreuungsgeld.

Für Jesper Juul ist das gegenwärtige System Kita ein zur Industrialisierung passendes Konzept. Er sieht sie in seinem derzeitigen Zustand einerseits als nur effektives „Reservat“ für Kinder: am besten so lang wie möglich geöffnet mit den neuesten Bildungs- und Förderungsmöglichkeiten versehen – zur Produktion der Elitekinder von morgen.

Andererseits möchte er sie nicht nur schlecht reden, denn tatsächlich ist die an externe Betreuung besonders für berufstätige Eltern kaum wegzudenken. Letztendlich geht es ihm nicht um deren Abschaffung, sondern um eine neue Form der Qualität und die Betrachtung des einzelnen Individuums.

„Werden Kinder respektvoll behandelt, entwickeln sie Respekt für andere“

Stempel- und Schubladendenken – die Definitionsmacht pädagogischer Einrichtungen

Jesper Juul im Babylon/ Berlin

Sein aktuelles Buch „Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst?: Ansichten zur Frühbetreuung“ beschäftigt sich mit der Qualitätsfrage pädagogischer Einrichtungen. Dabei spielt es für Juul keine Rolle, wo sich die Kita befindet oder welches Erziehungskonzept sie bedient. Gute und schlechte Einrichtungen gibt es überall.

Wichtig für ihn sind der Beginn eines Umdenkens und die richtige Verteilung von Erziehungsverantwortung.  Letztere solle zu gleichen Teilen von Kita oder Schule sowie Eltern übernommen werden. Oft spiele man sich hier gegenseitig den  Schwarzen Peter zu, sieht Kinder voller Risikofaktoren oder redet über sie, als wären sie unsere Feinde.

Juul meint, dass pädagogische Einrichtungen heute zu gleichmacherisch agieren. Passt ein Kind nicht ins Konzept, weil es „zu“ aggressiv oder aktiv ist, wird es ausgegrenzt oder in andere Einrichtungen geschickt. Das nennt Juul die Definitionsmacht der Pädagogen. Dabei sei gerade Aggressivität kein unveränderliches Verhalten.

„Mit unempathischen Kindern muss man empathisch umgehen“, weiß der Familientherapeut aus über 30 Jahren Erfahrung. Statt mit Hysterie und Problematisierung solle mit anteilnehmendem Dialog reagiert werden. Dazu gehört vor allem, dass Pädagogen und Eltern lernen, über eigene Gefühle zu reflektieren:

„Man kann nicht empathisch sein, wenn man sich selbst nicht kennt“, fasst Juul die vielerorts fehlenden zwischenmenschlichen Fähigkeiten zusammen. „Die ErzieherInnenausbildung ist nicht sehr ausgezeichnet und altmodisch.“ Die stabilen Säulen in der Kita sollten in Fürsorge, Sicherheit und Anregung bestehen. Ein Kind braucht nicht zehn verschiedene Spezialisten auf ihrem Gebiet als Ansprechpartner, denn „es gibt mehr und mehr Fachleute, die immer weniger über das Ganze wissen“. Pädagogen sollten sich in Zusammenarbeit mit den Eltern einen Gesamtüberblick zum einzelnen Kind verschaffen.

Vertrauen dem Individuum gegenüber

Jesper Juul legt Wert auf die Beschäftigung mit dem einzelnen Kind. Die Ausgangslage bezüglich des fehlenden Erzieherpersonals in Deutschland ist sicherlich dafür keine rosige. Die Zahlen stellen sich beharrlich gegen seine Empfehlung höchstens vier Kinder pro Pädagogen zuzuteilen. Die Möglichkeit, die Kinder auch in Anbetracht dieser Lage, noch etwas länger daheim zu erziehen, sieht er wenig kritisch. Über das viel diskutierte Betreuungsgeld, kann er sich nicht aufregen. Ohne sich selbst politisch verorten zu wollen, betonte er, wie angenehm es sei, „dass Eltern hier noch wählen können“, während skandinavische Eltern zum Teil verpönt werden, wenn sie ihre Kinder zuhause betreuen. Es scheint Juuls Taktik zu sein, keine konkreten Antworten zu geben, sondern Eltern und Pädagogen selbst eine Antwort finden zu lassen.

Juul ist optimistisch: „Wir brauchen keine neuen Strukturen. Wir können ab morgen neu anfangen.“ Denn mit einem Schritt kann schon im Kleinen begonnen werden. Den Kindern muss mehr Vertrauen entgegengebracht werden. Sie wollen von selbst lernen. In Dänemark zeigt sich an Versuchsschulen, dass Hausaufgaben auf freiwilliger Basis von 65 Prozent der Schüler aus eigener Motivation heraus gemacht werden. Misstrauen durch Eltern und Lehrer wirkt sich oftmals eher negativ aus.

Laut Juul wäre ein Bildungsrecht viel wichtiger als die Schulpflicht, die ohnehin vielmehr für die Erziehungsberechtigten gedacht war. Er ist kein Freund von kollektivistischen Regeln, die das Individuum schon in der frühen Kindheit in „richtige“ Bahnen lenken sollen. Ein Beispiel für innovative Entwürfe im Sinne des einzelnen Kindes ist die „rollende Einschulung“, die in Dänemark teilweise praktiziert wird. Kinder, die zum September noch nicht bereit für die Schule sind, können auch in den Folgemonaten hinzustoßen.

Wem die Kinder gehören, beantwortet Juul mit seinem Plädoyer für geteilte Verantwortung, Individualität und mehr Herz schon vorab: letzten Endes nur sich selbst.

 

Jesper Juul

Jesper Juul (* 1948)

Der dänische Autor und Familientherapeut Juul speist sein Wissen aus jahrelanger Erfahrung als Heimerzieher und Sozialarbeiter. Er ist Gründer und Leiter des Kempler Insitutes of Scandinavia und des Familylab sowie Autor verschiedener Werke wie „Das kompetente Kind“ oder „Was Familien trägt“. Mit seiner gelassenen Persönlichkeit kritisiert er ohne Anspruch auf Rechthaberei pädagogische Institutionen und Eltern und bleibt dennoch einer der in Europa gefragtesten Berater auf dem Gebiet der Pädagogik.

Kinder brauchen liebevolle Erziehung. Diese kann nur gewährleistet werden, wenn sich die Eltern selbst wohlfühlen. Lesen Sie mehr zur Auswirkung von psychischen Erkrankung bei Eltern auf deren Kinder. Zum Interview mit Diplom Psychologin Katharina Gaudlitz.



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